Viele Beschwerden - wenig Befund!
Funktionelle Störungen
Bei rund der Hälfte aller körperlichen Beschwerden, mit denen Menschen ihren Hausarzt aufsuchen, findet sich keine organische Ursache. Es handelt sich um sog. funktionelle Beschwerden. Wenn nichts Körperliches vorhanden ist, wird meist die Psyche als Ursache vermutet. Doch häufig führen weder Psychotherapien noch Psychopharmaka zum erwünschten Erfolg. Was ist dann? Wollen die Betroffenen nicht gesund werden? Bilden Sie sich die Beschwerden ein?
Wir haben im Verlauf von Jahrzehnten einen anderen Blick auf die Beschwerden gewonnen, der zu anderen Therapieverfahren und auch zu erfreulichen Veränderungen führt.
Was sind eigentlich "funktionelle Störungen"?
Äußerst vielfältig
Funktionelle Störungen sind Beschwerden oder Krankheitsbilder mit körperlichen Beeinträchtigungen, bei denen sich jedoch kein körperlicher Befund findet.
Was ist das Kennzeichen der Beschwerden? Typisch ist die Kombination von mehr oder minder ausgeprägten Beschwerden bei fehlendem oder nur geringem körperlichen Befund. Und in der Regel machen diese Beschwerden Angst. Schlaflosigkeit und Abgeschlagenheit ist sehr häufig.
Anders ausgedrückt: Körperfunktionen (Verdauung, Atmung, Schmerzwahrnehmung) sind beeinträchtigt aber es liegt keine erklärenden körperliche Beeinträchtigung oder ein körperlicher Defekt vor.
Es gibt eine weite Spannweite von harmlosen Alltagsbeschwerden bis hin zu invalidisierenden Krankheitsbilder. Alle Erkrankungen finden Sie hier auf diesen Seiten.
Alltagsbeschwerden:
- Erröten
- Durchfall, Harndrang bei Stress
- Schlaflosigkeit
- Herzklopfen
- Appetitlosigkeit, „Frustfraß“
- Kopfschmerzen
Beispiele für Krankheitsbilder:
- Herz-Kreislaufbeschwerden mit Beklemmungsgefühlen, Herzstolpern, Druckgefühle im Brustraum
- Atmungsbeschwerden: Druck auf der Brust, Beklemmungsgefühle, Atemnot, Hyperventilation mit Angst oder Panik, Reizhusten
- Magen-Darm-Beschwerden: Reizmagen, Reizdarm mit Übelkeit, Völlegefühl, vermehrte Blähungen, Durchfall, Verstopfung und Bauchschmerzen
- Unterbauchschmerzen, Schmerzen im Beckenboden, Vulvodynie
- Blasenbeschwerden mit Reizblase, chronisch urogenitaler Schmerz, Prostataschmerzen
- Chronische Schmerzzustände wie chronische Rückenschmerzen (chronic low back pain) oder generalisierte Schmerzen wie bei Fibromyalgie
Schwerste funktionelle Störungen:
- CFS
- schwere posturale Tachykardie
Die dargestellten Fakten beruhen z.T. auf der lesenswerten Leitlinie zu funktionelle Körperbeschwerden.
Synonyme - gleichbedeutend
- Medically unexplained Symptoms
- Somatoforme Störung
- Bodily distress disorder
- Funktionionelle Syndrome
Unglaublich häufig
Die Beschwerden sind ausgesprochen häufig:
- 20-50% in Hausarztpraxen
- 25-66% in speziellen Praxen/Ambulanzen
- knapp die Hälfte von 70 085 Hausarztpatienten funktionelle Symptome (40-49%)
- Ein Hausarzt mit 40 Pat. pro Tag sieht 2 Pat. mit funktionellen Beschwerden pro Stunde
Was funktionelle Störungen begünstigt...
- Vielfältige Beschwerden - nicht nur ein Symptom
- Häufige bzw. anhaltende Beschwerden, kaum beschwerdefreie Intervalle
- Inneres Katastrophisieren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Angst und Vermeidungsstrategien,
ausgeprägte Angst bezüglich der eigenen Gesundheit. - Schon- und Vermeidungsverhalten
- Erhöhte psychosoziale Belastung, negativer Stres, Niedergeschlagenheit, Zukunftsängste, Gefühl der Einsamkeit oder Über-/Unterforderung
- Depressionen, Angststörungen, Panikerkrankung, Suchterkrankungen, Trauma in der Biographie
- Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit, z. B. Arbeitsunfähigkeit, sozialer Rückzug, körperliche Dekonditionierung
- Behandler-Patient-Beziehung wird von beiden Seiten als „schwierig“ erlebt
- Falsche Behandlungen, Passivierung, unnötige Diagnostik und Therapie
Was vor funktionellen Störungen schützt...
- Positive Lebenseinstellung, Humor, Selbstbewusstsein
- Aktive Bewältigungsstrategien, z. B. sportliche Betätigung, aber auch Genuss- und Entspannungsfähigkeit
- Individuelle Ressourcen, z. B. befriedigende Hobbys, soziales Engagement, berufliche Pläne
- Keine oder geringe psychosoziale Belastung, z. B. stabile Bindungen, gute soziale Unterstützung, gute Lebens- und Arbeitsbedingungen
- Keine psychische Vorerkrankung
- Stabile Berufstätigkeit und Sozialkontakte
- Tragfähige Arzt-Patient-Beziehung
- Behandlungsansätze mit Vermittlung von Zuversicht und positiven Bewältigungsstrategien, unter Vermeidung unnötiger Diagnostik und Therapie
Diagnostik: Häufig zu viel!
Medizinische Über- und Fehldiagnosen
Natürlich müssen organische Ursachen (Entzündungen, Tumore, genetische Erkrankungen usw.) bei den Beschwerden ausgeschlossen werden.
Aber das Hauptproblem liegt nicht in der fehlenden Diagnostik, das Hauptproblem bei funktionellen Störungen ist die Überdiagnostik.
Bei sehr vielen – eigentlich den meisten - Patienten werden die gleichen Untersuchungen (Blutuntersuchungen, bildgebende Verfahren wie Ultraschall oder Röntgen) wieder und wieder durchgeführt. Das gleichbleibende Ergebnis: Alles in Ordnung. Das ist auf der einen Seite beruhigend. Auf der anderen Seite entsteht ein Zweifel: Wenn alles in Ordnung ist, warum habe ich dann dennoch Beschwerden? Nicht selten führt das zu einer Kette von weiteren Untersuchungen oder – schlimmer – diagnostischen Eingriffen.
Wenn dann noch abwertende Bemerkungen („Sie haben Nichts“ oder gar: „Sie bilden sich das ein“) hinzukommen, dann nimmt die Verunsicherung deutlich zu, was die Symptome in aller Regel verschlechtert.
Kurz: oft trägt die Medizin eher zu einer Verschlechterung bei (sog. iatrogene Schädigung).
Naturheilkundliche Fehldiagnose
Wenn sich bei der üblichen medizinischen Diagnostik kein Befund ergibt, suchen viele Betroffene Rat bei Naturheilärzten oder Heilpraktikern. Grundsätzlich ist es sehr begrüßenswert, wenn Befindlichkeitsstörungen nicht gleich mit nebenwirkungsreichen Medikamenten behandelt werden. Ein leider häufiges Beispiel ist die Einnahme von Antibiotika bei grippalen d.h. viralen Infekten.
Doch bei funktionellen Störungen suchen Naturheilkundler nach Problematiken, die nicht die Ursache der Beschwerden sind:
- Amalgambelastung
- Mitochondriopathien
- Borrelien
- Nahrungsmittelunverträglichkeiten
- Narbenstörungen
- Vitaminmangel
- Mange an Spurenelementen
- Strahlenbelastung (z.B. Handystrahlen)
- Pilze/Würmer/Parasiten
- früher: Wasseradern
Selbstverständlich gibt es reale Borreliosen, echte Pilz- oder Wurmerkrankungen und - selten - echten Vitaminmangel, doch bei funktionellen Störungen werden hier die Falschen verdächtigt.
Funktionelle Tests
Vegetative Störungen sind nicht einfach zu messen. Normale Blutuntersuchungen oder Bild gebende Verfahren wie das Röntgen versagen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass damit der Spekulation und Mutmaßung Tor und Tür geöffnet ist. Mit einer Reihe von Verfahren ist eine zumindest orientierende Diagnostik möglich.
Beispiele:
- Kipptisch- oder Schellong-Untersuchung d.h. die Untersuchung der Blutdruckregulation im Liegen und Stehen
- Durchblutungsmessungen z.B. im Gehirn
- Untersuchung der Herzfrequenzvariabilität d.h. die Messung der natürlichen Schwankungen des Herzschlages von Schlag zu Schlag
- Schlafuntersuchungen
- Untersuchung der Atemregulation insbesondere Kohlendioxidspiegel
- Untersuchung der Thermoregulation, z.B. wie schnell ändert sich die Hautdurchblutung bei Kälte- und Wärmereizen
- Biofeedback-Untersuchungen
- funktionelle Kernspintomographie
Hintergründe und Ursachen
Wie kommt es nun zu den Symptomen? Was sind sie zu erklären? Das wichtigste vorweg: Funktionelle Beschwerden sind nicht eingebildet, auch wenn ein Arzt keinen körperlichen Befund erheben kann. Wer Beschwerden hat, der hat sie oder er lügt. D.h. Sie können natürlich behaupten, Sie hätten Schmerzen ohne dass es stimmt. Aber wenn es weh tut, dann ist dieser Schmerz vorhanden, auch wenn ein Arzt nichts findet.
Noch etwas vorweg: funktionelle Beschwerden sind auch keine „hysterischen oder hypochondrischen Reaktionen“, also keine einfache „Verschiebung“ von Konflikten in den Körper.
Wir können sinnvollerweise unterscheiden zwischen:
- Erworbene Faktoren
- Angeborene Faktoren
- Aufrechterhaltende Faktoren
Der Körper spricht nicht in Rätseln oder Metaphern
Eine verbreitete Erklärung bewegt sich auf einer symbolischen Ebene. Der Körper drückt metaphorisch - in einer Bildersprache - aus, was ein Mensch nicht wagt zu äußern.
Also bei Durchfall – Entschuldigung! – „scheißt“ entweder jemand auf etwas oder er bekommt eben „Schiss“.
Auch wenn solche Metaphern auf den ersten Blick ganz amüsant sind, sie versagen bei den meisten funktionellen Beschwerden. Reizblase, Prostatitis, funktionellen Atembeschwerden usw. lassen sich so nicht befriedigend erklären. Dass Sie „jemand etwas husten“ möchten, finden Menschen mit schwerem Reizhusten nicht einleuchtend.
Klar ist: Der Körper reagiert anders, empfindlicher, oft schneller, übertrieben und das ganze stellt eine erhebliche Beeinträchtigung im Alltag dar.
Wir glauben jedoch, eine Verständnis der Beschwerden als „Symbol“, als „chiffrierte Botschaft“ das ist nicht überzeugend.
Erworbene Faktoren
- Irritation in der Kindheit (Verletzungen, Traumatisierungen, Operationen, Überbehütung)
- Belastende Lebensumstände
- Körperliche/seelische Vorerkrankungen
Wir wissen, dass Menschen mit funktionellen Beschwerden häufig eine belastete Kindheit hatten. Viele Faktoren kommen hier in Frage: Vernachlässigung, Übergriffe, Traumata, aber auch Erkrankungen der Eltern, Schicksalsschläge, soziale Benachteiligung und anderes mehr. Das leuchtet vermutlich unmittelbar ein.
Allerdings können auch überängstliche Eltern einen Risikofaktor darstellen.
In beiden Fällen lernt ein Kind: Die Welt ist nicht sicher! Daraus folgt eine innere Organisation, die mit höherer Aufmerksamkeit, besserer Beobachtung und vermehrtem Misstrauen begleitet ist. Ein Kind wird sensibler.
Ein weiterer Faktor, der vielen Menschen mit funktionellen Störungen gemeinsam ist: hohe Leistungsbereitschaft, der Wille sich einzusetzen und den inneren Wert über Leistung zu definieren.
Doch dies Eigenschaften alleine führen keineswegs zu Beschwerden. In der Regel lösen erst Überforderungssituationen, dann die eigentlichen Symptome aus. Das wird dann nicht selten mit der Formel „Stress“ beschrieben, wobei der „Stress“ körperlicher, psychischer oder sozialer Art sein kann. So können Infektionen, Operationen, schwerwiegende Krankheiten, zwischenmenschliche Konflikte, Schicksalsschläge, Arbeitsplatzkonflikte oder eine Kombination von allem am Beginn der Symptomatik stehen.
Also stark vereinfacht: Ein Mensch mit erhöhter Sensibilität trifft auf eine Situation, die ihn erheblich überfordert und die er nicht mit seinen verfügbaren Mitteln bewältigen kann.
Nebenbei: Bei der Entstehung von funktionellen Beschwerden spielen neben den Belastungsfaktoren auch die unterstützenden Faktoren – die Ressourcen – eine wesentliche Rolle. Je mehr davon vorhanden ist (emotionale und finanzielle Sicherheit, soziale Integration) desto geschützter ist eine Person.
Kernfrage: Warum Durchfall statt Ärger?
Doch jetzt kommen wir zur eigentlichen Frage: Wenn uns etwas überfordert, warum reagierten wir dann nicht mit Ärger, Wut, Verzweiflung, Trauer sondern mit Durchfall, Herzrasen, Schmerzen oder Schlafstörungen?
Wieso reagiert der Körper auf diese „merkwürdige“ Art und Weise? Das ist die Kernfrage der Psychosomatik!
Die psychischen Reaktionsweisen (Depression, Angst) lassen sich in aller Regel gut auf Grund unserer persönlichen Biographie erklären. Insbesondere die früheren Erfahrungen von Beziehungen (z.B. Sicherheit, Eindeutigkeit) beeinflussen uns meist ein Leben lang. Misstrauen in der Partnerschaft wird viel häufiger auftauchen, wenn wir als Kind keine Stabilität erfahren durften.
Angeborene Faktoren
Wir haben bereits von der persönlichen Biographie des Menschen gesprochen. Genau genommen, haben wir jedoch zwei Biographien. Eine persönliche Biographie und eine Biographie als Mensch, damit meine ich die Geschichte, die wir auf diesem Planeten hatten. In einer wissenschaftlichen Sprache wird in die Ontogenese (persönliche Geschichte) und Phylogenese (Stammesgeschichte) unterschieden.
Während die persönliche Gesichte mehr oder weniger gut in ihrem Gedächtnis gespeichert ist, können Sie sich natürlich an die Zeit der Neandertaler nicht erinnern. Trotzdem ist sie aufgeschrieben, aber nicht in Ihrem Gedächtnis sondern in Ihren Genen. Dort befinden sich neben Strukturinformationen (wie sehen wir aus) auch Daten, die unsere Funktion steuern.
Also: Wie funktioniert eine Zelle, ein Zellverband, ein Organe oder der ganze Körper. Vor allem sind die lebenserhaltenden Funktionen des Körpers genetisch gesteuert: Verdauung, Kreislauf, Atmung, Temperaturregulation, Immunsystem, Muskeltonus, Gleichgewicht, Schlaf-Wach-Rhythmus und vieles mehr.
Hier gibt es Programme, die ohne unser bewusstes Eingreifen ganz ausgezeichnet und in aller Regel störungsfrei arbeiten. (Da könnten sich Computerprogramme eine Scheibe abschneiden, aber die Natur hatte ja genügend Zeit für die Entwicklung).
Die meisten dieser Programme können auf eine sehr, sehr lange Geschichte zurückschauen. Sie wurden nicht von unseren menschliche Vorfahren „erfunden“, sondern finden sich praktisch genauso bei Tieren, z.B. den Säugetieren und bei noch älteren Lebewesen.
Das bedeutet – und jetzt kommt es – die Programme wurde im Zusammenspiel mit einer Umwelt entwickelt, die es so in weiten Bereichen nicht mehr gibt. Sie stammen aus einer zurückliegenden vorgeschichtlichen Epoche, die weit vor die Zeit des Ackerbaus und der Viehzucht zurückreicht: Aus Urwald und Savanne, in der wir als Sammler und Jäger in kleinen Gruppen über weite Flächen streiften.
Unsere Vorfahren waren dabei in einer Weise bedroht, die uns heute kaum vorstellbar ist. Hunger, Infektionen, wilde Tiere setzten ihnen beständig zu. Für solche Situationen haben sich Programme – Gene- entwickelt, die uns das Überleben sicherten.
Nehmen wir an, wir befänden uns – wie unsere Vorfahren – in so einem gefährlichen Urwald. Was wäre dann eine optimale Reaktion, wenn ein Tigern vor uns steht, der noch nicht gefrühstückt hat? Im wesentlichen Folgendes: Höchste Aufmerksamkeit (alles Sehen, Hören, Riechen!), hohe Muskelspannung, schneller Herzschlag, erhöhter Blutdruck, beschleunigte Atmung, Einschränkung unnötiger Körperfunktionen (Immunsystem, Sexualität) und – bei Nacht – ja nicht schlafen, und wenn doch, dann nicht tief. Angeborene Faktoren
Aufrechterhaltende Faktoren
- Unangemessene Behandlungen (Übertherapie)
- Unangemessene Diagnostik (Überdiagnostik)
- Unangemessene Krankheitstheorien (Vergiftung, Organbelastung, Neurose, Einbildung)
- Vermehrte Selbstbeobachtung bei Angst/Anspannung
- Vermeidung und Dekonditionierung
Beispiel Verdauung
Unsere Vorfahren waren stets in einer prekären Situation bezüglich der Nahrung. Meist gab es davon zu wenig. Menschen, die es schafften trotz Bedrohung mehr zu essen und ein wenig Speck auf dem Rippen zu haben, lebten länger. Wir bezeichnen, das als „Frustfraß“, d.h. unter Stress nehmen wir zu. – Eigentlich sinnvoll.
Bleiben wir bei der Nahrungsaufnahme. Ein weiteres Problem ist im „Urwald“ die Qualität der Nahrungsmittel. Die meisten Pflanzen sind ungenießbar, stachelig oder richtig giftig. Und bei den tierischen Lebensmitteln war es auch nicht besser. Was gut schmeckte und nahrhaft war, wehrte sich entweder oder lief schnell weg (Jägerregel: gutes Fleisch läuft schnell!). Daher mussten sich unsere Vorfahren oft mit den Resten abgeben (Gammelfleisch). Dazu haben wir diese unappetitlichen Fleischhappen auch noch die längste Zeit roh herunter geschlungen.
Um mit diesen wenig delikaten Küche umzugehen, hat der Magen-Darm-Trakt einige sehr erfolgreiche Strategien entwickelt. Wenn also von der Nahrung Gefahr ausging, war es sinnvoll schnell mit Übelkeit und Erbrechen zu reagieren, sehr viel Salzsäure zu produzieren, um Bakterien den Garaus zu machen. Wenn das nicht reichte, war es gut möglichst schnell wieder auszuscheiden...
Wer unter einer Reizdarmsymptomatik leidet, der wird es bereits wissen: Übelkeit, Völlegefühle, Rumpeln im Bauch, Blähungen, Durchfall – alles typische Zeichen der Reizdarmsymptomatik.
Alte Schutzreflexe
Die Beispiele ließen sich jetzt für die sehr viele Organsysteme fortsetzen.Funktionelle Störungen lassen sich in aller Regel von Schutzreflexen zurückführen, die unseren Vorfahren das Überleben garantiert haben. In Situationen, die uns überfordern, greift der Körper auf Programme zurück, die aus alter Zeit stammen und nun „abgespult“ werden.
Sie waren „eigentlich“ hochsinnvoll, wenn wir früher in Gefahr waren. Allerdings waren die Reaktionsmuster meist auf kurzfristige Bedrohungsszenarien geschneidert und nicht wie heute auf die Bewältigung von jahrelangem Stress und Überforderung.
Fassen wir also zusammen: Wir glauben, dass sich funktionelle Störungen im Kern auf genetisch überlieferte Reaktionsmuster zurückführen lassen, die unseren Vorfahren das Überleben in Gefahr sicherten. Heute werden Sie ebenfalls durch Gefahr von Außen provoziert, eben durch Stress. Nur: die alten Reaktionen passen nicht in einen Büroalltag.
Was bedeutet das für die Therapie?
Zum ersten verändert das den Blick einen Menschen. Wir glauben, dass funktionellen kein Störungen nichts defekt ist. Der Körper reagiert „eigentlich“ normal. Er kann nichts dafür, dass sich unsere Umwelt zu radikal verändert hat.
Zum anderen beeinflusst das auch die therapeutischen Strategien. Wir gehen also – vereinfacht - davon aus, dass Stressgene „angeschaltet“ worden sind. Diese gilt es wieder zu inaktivieren.
Therapie
Viele wirkungslose medikamentöse Therapieverfahren
Generell ist der Erfolg von medikamentösen Maßnahmen bei funktionellen Beschwerden gering. Das betrifft z.B. Schmerzmittel (etwa bei Fibromyalgie) oder Antidepressiva. Zitat Leitlinie: "Die Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva für funktionelle Körperbeschwerden insgesamt wurde entsprechend in einem großen Cochrane-Review (Kleinstäuber et al. 2014) als nicht nachweisbar eingestuft, im Vergleich zu Placebos."
In manchen Studien und für manche Krankheitsbilder ist die Situation etwas günstiger, d.h. Beschwerden können etwas nachlassen, etwa Amitriptylin bei Fibromyalgie. Die Vorstellung, abends eine Tablette einnehmen und morgens beschwerdefrei aufwachen, mag für die antibiotische Therapie von bakteriellen Infektionen zutreffen, für funktionelle Störungen leider nicht.
Psychotherapie
Psychotherapie ist bei funktionellen Störungen wirksam. Das ist nachgewiesen. Allerdings ist die Wirksamkeit oft nicht sehr stark und möglicherweise auch nicht spezifisch.
Sehr häufig berichten Patienten, sie waren zur psychosomatischen Reha (Kur). Dort hätten die Beschwerden etwas nachgelassen, aber zuhause seien dann die bekannten Symptome schnell wieder zurückgekehrt.
Dann hätten sie – nach langem Warten – eine Psychotherapie begonnen und auch das habe etwas geholfen. Sie würden vor alle die Zusammenhänge mit ihrer eigenen Geschichte klarer erkennen, doch eine wirklich grundsätzliche Besserung sei nicht eingetreten.
Zweifelhaften Naturheilverfahren
Die naturheilkundlichen Verfahren sind jetzt anders z.B.
- Phytotherapie, d.h. Pflanzenstoffe
- Homöopathie
- Mineralien
- Vitamine
- Entgiftungen
- Meidung von Nahrungsmitteln
- Ausleitung von Giften
- Bioresonanz
- Mitochondrientherapie
- Orthomolekulare Therapie
- usw.
Nicht alle Maßnahmen sind grundsätzlich wirkungslos. Manch pflanzliches Mittel hat eine günstige Wirkung. Charakteristisch ist jedoch meist eine nur kurzfristige Besserung. Danach läßt der Effekt nach. Ein neues Präparat wird versucht mit einem ähnlichen Ablauf. So gibt es viele Patienten, die immer wieder einen neuen Anlauf nehmen und zahllose Präparate in einer Kiste zuhause aufbewahren.
Hintergrund der Wirkung ist meist der - keineswegs schlechte! - Placebo-Effekt. Die Hoffnung auf Wirksamkeit bewirkt eine Erleichterung und Beruhigung, die so zu einem Nachlassen von Angst und Anspannung führt.
Sind die Medikamente harmlos, dann wird kein großer Schaden entstehen. Allerdings können unzutreffende Konzepte auch weniger harmlose Konsequenzen haben. Wenn beispielsweise bei MCS (multiple chemische Sensibilität) die Ursache in einer "Vergiftung" durch Dämmstoffe, Holzschutzmitteln oder Klebstoffe vermutet wird, dann haben wir Betroffene gesehen, die Wohnungen oder Häuser entkernen ließen, immer auf der Suche nach einer äußeren Ursache ihrer Beschwerden.
Genauso problematisch sind paramedinische Therapien wenn aufgrund der nicht zutreffenden Diagnose "Borreliose" langwierige und nebenwirkungsreiche Antibiotikatherapien verordnet werden.
Unzutreffende Theorien können auch "geistigen Flurschaden" anrichten. Sie erzeugen eine Verwirrung über die möglichen Ursachen. Häufige fehlgeleiteten Konzepte sind:
- Vergiftungen
- "Belastungen" oder "Schwächen" einzelner Organe
- "Unverträglichkeiten"
- Schädliche Einwirkungen aus der Umwelt (Strahlen, Umweltgifte)
- Mangelerkrankungen
- Erkrankung der Mitochondrien
Einige Patienten mit funktionellen Störungen vermuten so schlimme Erkrankungen und bleiben häufig lange in einem Fehlglauben verfangen, den sie mit ihren Therapeuten teilen. Die Ablehnung der Konzepte durch die "normale" Medizin verfestigt leider oft nur diese Vorstellungen.
Grundsätze einer rationalen Therapie
Funktionelle Störungen beruhen aus unserer Sicht aus sinnenhaften aber oft "übertriebenen" oder "unpassenden" Reaktionsmuster. Im Kern geht es jeweils um Schutz vor einer realen oder vermuteten Gefahr. Auf der psychischen Seite sind die Reaktionen unmittelbar verständlich: Vorsicht, Ängste, Rückzug oder Depressionen können als Antwort auf eine Bedrohung gesehen werden.
Die körperliche Seite (Durchfall, Kopfschmerzen, Herzrasen) müssen dagegen "übersetzt werden. Sie erklären sich aus angeborenen Reflexen, die in einer ursprünglichen Lebensform hochsinnvoll zum Überleben waren. Heute werden diese jedoch nicht mehr durch Löwen sondern durch Stress ausgelöst.
Wesentlich ist dabei eine Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Ziel des Reflexes, der immer Schutz anstrebt und den unliebsamen Folgen.
Hier Beispiele und mögliche Erklärungen:
Beruhigung und Ermutigung auf allen Ebenen
Im Kern geht es also um Schutz- und Notfallprogramme, die allerdings sinnlos geworden sind. Sie sind übertrieben und wirken in unsere zivilisierten Umwelt nicht mehr.
In der Therapie muss also vermittelt werden, dass die Welt nicht so bedrohlich ist, wie diese erscheinen mag. Diese muss aus unsere Sicht auf drei Ebenen erfolgen:
- Kognitiv
- Emotional
- Körperlich
Und neben der Beruhigung steht die Ermutigung, d.h. Betroffene sollen wieder das lernen, was sie in der Angst gemieden haben.
Kognitive Beruhigung und Ermutigung
Am einfachsten ist es, die Zusammenhänge zu verstehen. Also das, was Sie jetzt hoffentlich gerade tun: Einen neuen Blick auf die Beschwerden werfen, ein anderes Verständnis der körperlichen Regulationen gewinnen. Details finden Sie bei allen hier auf der Seite beschriebenen Krankheitsbildern.
Nicht ganz so einfach ist allerdings dieser Schritt, wenn Sie über lange Zeit der Überzeugung waren, dass Umweltgifte oder ähnliche Faktoren an Ihren Beschwerden Schuld seien. Sich von solchen Konzepten zu lösen, ist oft schwierig, vor allem wenn bereits ein großer seelischer oder finanzieller Aufwand (z.B. Hausumbau, Umzug, Kündigung) auf Grund der Krankheitstheorie erfolgte. Dann erscheinen diese Opfer plötzlich sinnlos, was das Innere vor eine große Herausforderung stellt.
Emotionale Beruhigung und Ermutigung
Die innere Beruhigung, die Lösung von Angst und Anspannung sind ein zweiter wesentlicher Schritt, um funktionelle Beschwerden zu überwinden.
Vor allem, wenn sie auf schwerwiegenden Problematiken aus der Vergangenheit beruhen, kann hier Psychotherapie äußerst hilfreich sein.
- Reduktion von Schuld
- Vermittlung von Kompetenz
- Reduktion von Anspannung
- Lösung von VerstrickungEmotionale Beruhigung und Ermutigung
Körperliche Beruhigung und Ermutigung
Die körperliche Reaktion ist genetisch gesteuert. Viele der Stressgene teilen wir mit Tieren, sie entstammen einer Zeit, in der es noch keine Sprache im unserem Sinn gab.
Um solche funktionellen Beschwerden zu beeinflussen, muss daher eine „Sprache“ gewählt werden, die unser Körper versteht. Diese „Sprache“ ist körperlich. D.h. Massagen, Wärme, Kälte, Bewegung, Atmung oder Ernährung erreichen eine andere Schicht unseres Wesens als emotionale Berührung oder rein kognitive Information.
Wir glauben daher, dass „alte“ körperliche Prozesse (Verdauung, basale Reizverarbeitung, Atmung, Stoffwechsel) vor allem durch „alte“ Wege beeinflusst werden können, also durch eine „Sprache“, die auch Kleinkinder oder Tiere verstehen können.
Für diese Art der Intervention gelten einige Erfahrungsregeln:
- Besonders wirksam sind Therapieverfahren, die über vielen Sinneskanäle einwirken. Wenn also gleichzeitig Auge, Ohr, Nase, Geschmack, die Wahrnehmung von Druck, Berührung, Wärme, Kälte und innere Organe angesprochen werden. Hier soll vor allem eine Erfahrung machen: es droht keine Gefahr. Diese Gleichzeitigkeit von Erfahrung ist eines der Grundpfeiler der Therapie.
- Bei der Therapie kommt es auf eine große Zahl von Wiederholungen an. D.h. immer wieder muss die „heile, heile Segen“ Erfahrung sinnlich erlebt werden. Vermutlich sind für Restrukturierungen von Verschaltungen im Nervensystem einige Tausend Zyklen notwendig.
- Beruhigung, Entspannung, Verwöhnung sind nicht ausreichend, sonst kommt es erneut zu einer Stressreaktion, wenn die Welt einmal unfreundlicher ist. Daher ist ein Teil auch die Abhärtung. Dabei wird vermittelt, dass es nicht bedrohlich ist, falls einmal stärkere Reize kommen. Das innere System soll also neu „kalibriert“ werden.
- Wenn also eine Behandlung wiederholt über viele Kanäle wirkt, wenn sie auch abhärtende Elemente enthält, wenn sie verstehbar ist und in einer sicheren emotionalen Beziehung erfolgt, dann spielt die Dauer eine untergeordnete Rolle, d.h. die Fortschritte sind dann erstaunlich schnell möglich.
- Letztlich verfolgen wir bei der "Abhärtung" gleich Prinzipien wie bei spezifischen Phobien, z.B. einer Hundephobie. Meidung macht alles schlimmer. Daher wird hier langsam konfrontiert. Am Anfang mit süßen Welpen, dann mit kleinen harmlosen, verspielten Hunden und schließlich mit immer richtigen großen Kläffern.
Multimodale Therapie
Multimodale Therapieverfahren gelten derzeit als der "Goldstandard" bei der Therapie von funktionellen Störungen. Zitat Leitlinie: "Weitergehende förmliche Definitionen einer multimodalen Behandlung verlangen die Einbeziehung einer psychosozialen Fachrichtung (zur psychosozialen Diagnostik und Verlaufsbeurteilung, nicht zwingend zur Psychotherapie), und zusätzlich die Anwendung von mindestens drei der folgenden aktiven Therapieverfahren: Psychotherapie, Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Ergotherapie, künstlerische Therapie, (medizinische) Trainingstherapie oder sonstige übende Therapien (Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI; deutscher Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS Ziffer 8-918.x)".
Die Kunst besteht nun in der Auswahl der geeigneten Verfahren:
- Welche Behandlungsmethoden sollen kombiniert werden?
- Wie wieviele Therapien sind optimal?
- Wie lange soll pro Tag behandelt werden?
- Wie lange soll die Gesamttherapie dauern?
Selbsthilfe und Selbstwirksamkeit
Sehr zentral ist die Vermittlung von Fähigkeit, sich selbst nach einer Therapie zu helfen. Daher haben wir Programme entwickelt, die nach einer Therapie zuhause weiter durchgeführt werden können.
Zu einigen existieren Beschwerden existieren strukturierte Online-Programme, die Schritt-für-Schritt durch die Selbsthilfe führen.