Wenn die Welt und die eigene Person fremd erscheinen
Derealisation und Depersonalisation
Die Beschwerden lassen sich nur schwer in Worte fassen. Die Welt erscheint irgendwie fremd und unwirklich zu sein. Es ist ein Gefühl wie Nebel im Gehirn oder wie hinter einer Glasscheibe zu stehen. Alles wirkt unvertraut, nicht real oder wie im Traum.
Und sogar der eigene Körper ist anders als er war. Fremd, wie ein Roboter. Der Blick in den Spiegel hat seine Selbstverständlichkeit verloren.
Das Ganze macht Angst. Ein Tumor oder Nervenkrankheit? Oder gar eine drohende Geisteskrankheit?
Depersonalisation und Derealisation nennen sich das Phänomen. Was ist das? Wie entsteht es? Was hilft dagegen? Dazu haben wir neue Erkenntnisse!
Neue Erkenntnisse und neues Verständnis
Es kommt selten allein
Depersonalisation und Derealisation können als isoliertes Phänomen angesehen werden. Es ist jedoch gut bekannt, dass die Symptomatik selten alleine auftritt. Patienten mit Derealisation und Depersonalisation klagen meist über viele weitere Symptome. Vor allem Schwindel, Erschöpfung, „Nebel im Gehirn“, Panikattacken oder Panikgefühlen, Schmerzen, Angst oder Depressionen.
Auch umgekehrt
Die Überlegung lässt sich auch umdrehen.
- Patienten mit funktionellem Schwindel klagen über meist sehr ausgeprägte Benommenheit, ein Gefühl wie im Nebel zu stehen oder wie betrunken zu sein.
- Patienten mit CFS oder anderen Erschöpfungssyndromen klagten über „brain-fog“ also einem benebelten Gehirn.
- Fibromyalgiepatienten schildern massive Erschöpfung und gleichfalls das Gefühl wie „neben sich zu stehen“.
- Besonders ausgeprägt sehen wir diese bei Menschen nach einer Paniktattacke. Danach sind sie oft lange Zeit wie „nicht richtig da“.
Auch wenn Schwindel, Erschöpfung, Schmerzen, Panik oder Derealisation klar unterscheidbare Beschwerden sind, gibt es offenbar einen bisher wenig beachteten inneren Zusammenhang.
Bei Krankheitsbildern wie funktioneller Schwindel, Erschöpfung, Panikstörung, Brain-Fog, CFS und auch bei einigen dissoziativen Störungen konnten wir eine enge Beziehung zu Atemstörungen feststellen. Die Details finden sich bei den jeweiligen Krankheitsbildern.
Ist es denkbar, dass auch bei Derealisation und Depersonalisation eine Verbindung zu einer gestörten Atmung vorhanden ist? Wie glauben, ja!
Zentral für diese Überlegung ist die physiologische Verbindung der Atmung zur Gefäßsteuerung der Hirngefäße. Kurzgefasst führt ein Absinken des Kohlendioxidspiegels zu einer Minderdurchblutung des Gehirns.
Atmung und Gehirndurchblutung
Diese eingeschränkte Versorgung beeinträchtigt als erstes die höheren Fähigkeiten des Gehirns: rationales Denken, Erinnerung, Wachheit, innere Präsenz usw.
Es können aber bei eingeschränkter Durchblutung auch regionale Störungen auftreten etwa in der Gleichgewichtsregulation oder im Sehzentrum. Die Folge sind dann Schwindel oder Sehstörungen.
Neue Erkenntnisse und Therapie
Einführung
Symptome
Symptome
Die Beschwerden wurden erstmals im 19. Jahrhundert näher beschrieben. Im , Vordergrund stand bereits damals das Entfremdungsgefühl oft gekoppelt mit Erschöpfung, Angst und Depressionen.
Derealisation
Die Entfremdungsgefühle richten sich einmal auf die Welt, die nicht mehr wirklich erscheint. Sie wirkt fremd, unwirklich, wie durch einen Schleier oder einen Nebel. Manchmal wir diese Art der Wahrnehmung wie „ein Traum“ beschrieben, als ob die Außenwelt nicht wirklich existierte oder verzaubert sei.
Depersonalisation
Auch die eigene Person wirkt unvertraut. Der Blick in den Spiegel ist nicht mehr selbstverständlich. Die eigenen Hände scheinen nicht mehr zu sich selbst zu gehören. Das Innere erscheint leer, ausgehöhlt, roboterhaft oder wie tot zu sein.
Definition
Definition
Derzeit gibt es zwei Definitionen von Derealisation und Depersonalisation. Sie wird im ICD zu seltenen Formen von „sonstigen neurotische Störungen“ gezählt und im DSM V unter „dissoziativen Störungen“ subsummiert.
Sehr wesentlich ist folgende Unterscheidung: Bei der Derealisation erscheint die Welt als ob sie nicht wirklich wäre. Bei Psychose ist der Betreffende überzeugt, die Welt ist verändert.
Bei der Depersonalisation wirkt die Welt, als ob ich durch fremde Augen sehen würde, als ob das Bild im Spiegel nicht zu mir passen würde und als ob meine Hände nicht zu mir passen würden. Ich weiß jedoch, dass dies nur so erscheint.
Bei einer Psychose sind meine Hände fremdgesteuert, es benützt ein Fremder meine Augen, meine Empfindungen werden von Außen manipuliert usw..
Formen
Es wird teilweise zwischen primäre und sekundären Formen unterschieden.
- Primär: Ohne andere Begleiterkrankungen
- Sekundär: im Rahmen von anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen, z.B. Depression, Angst, Psychosen, körperliche Erkrankungen.
ICD 10
"Eine seltene Störung, bei der ein Patient spontan beklagt, das seine geistige Aktivität, sein Körper oder die Umgebung sich in ihrer Qualität verändert haben, und unwirklich, wie in weiter Ferne oder automatisiert erlebt werden. Neben vielen anderen Phänomenen und Symptomen klagen die Patienten am häufigsten über den Verlust von Emotionen, über Entfremdung und Loslösung vom eigenen Denken, vom Körper oder von der umgebenden realen Welt. Trotz der dramatischen Form dieser Erfahrungen ist sich der betreffende Patient der Unwirklichkeit dieser Veränderung bewusst. Das Sensorium ist normal, die Möglichkeiten des emotionalen Ausdrucks intakt. Depersonalisations- und Derealisationsphänomene können im Rahmen einer schizophrenen, depressiven, phobischen oder Zwangsstörung auftreten. In solchen Fällen sollte die Diagnose der im Vordergrund stehenden Störung gestellt werden." ICD 10
DSM V
A. Das Vorliegen andauernder oder wiederkehrender Erfahrungen der Depersonalisation, Derealisation oder beidem:
- Depersonalisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit, des Losgelöstseins oder des Sich-Erlebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, des Körpers oder der Handlungen (z. B. Wahrnehmungsveränderungen, gestörtes Zeitempfinden, unwirkliches oder abwesendes Selbst, emotionales und/oder körperliches Abgestumpftsein).
- Derealisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung (z. B. Personen oder Gegenstände werden als unreal, wie im Traum, wie im Nebel, leblos oder optisch verzerrt erlebt).
B. Während der Depersonalisations- oder Derealisationserfahrungen bleibt die Realitätsprüfung intakt.
C. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
D. Das Störungsbild ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Krampfanfall).
E. Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung wie Schizophrenie, Panikstörung, Major Depression, Akute Belastungsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere dissoziative Störung erklärt werden.
Diagnose
Diagnose
Die Diagnose kann durch einen erfahrenen Arzt/Ärztin, vor allem Psychiater/Psychotherapeuten gestellt werden. Dabei können Fragebogen und strukturierte Interviews hilfreich sein.
Eine sehr einfache Unterscheidung wird von britischen Kollegen vorgeschlagen. Sie beruht auf lediglich zwei Fragen:
"Wie oft haben Sie sich in den letzten zwei Wochen durch die Erfahrung gestört gefühlt, dass
- sich Ihre Umgebung losgelöst oder unwirklich anfühlt, als ob ein Schleier zwischen Ihnen und der Außenwelt liegt
- Sie sich aus heiterem Himmel fremd fühlen, als ob Sie nicht real wären oder als ob Sie von der Welt abgeschnitten wären."
Diese Fragen werden in drei Stärken beantwortet
- überhaupt nicht =0
- einiger Tage = 1
- mehr als die Hälfte der Tage =2
- fast jeden Tag =3
Nun muss nur noch addiert werden. Maximal sind 6 Punkte möglich. Drei Punkte oder höher weisen auf eine wahrscheinliche Depersonalisation/Derealisation hin.
Andere Tests sind z.B.
- Cambridge Depersonalization Scale
- Dissociative Experiences Scale (DES)
- Depersonalization Severity Scale
Cambridge Depersonalization Scale
Eine der am häufigsten verwendeten Fragebogen zur Derealisation und Depersonalisation ist die Cambridge Depersonalization Scale.
Sie finden hier die deutsche Version als Online-Fragebogen. Das Ausfüllen dauert etwa 10 Minuten. Das Ergebnis erhalten Sie sofort am Ende.
Wichtig: Fragebogen haben nur eine unterstützende Diagnosefunktion. Wie dargestellt, ist das Gespräch mit einem fachkundigen Kollegin/Kollegin entscheidend.
Differentialdiagnose und Begleiterkrankungen
Depersonalisation und Derealisation sind häufig von anderen Symptomen/Erkrankungen begleitet. Nach einer englischen Studie waren folgende am häufigsten:
- 62% depressive Störung
- 41% Angststörung
- 16% Zwangsstörung
- 14% eine Agoraphobie
- 8% bipolare Störung
- 7% eine Schizophrenie
- 7% Drogenabhängigkeit
- 5% Alkoholabhängigkeit
In anderen Untersuchungen wird auf die Bedeutung der Panikstörung verwiesen, die bei bis zu 80% der Betroffenen feststellbar war.
Ausschluss-Untersuchungen
Eine Reihe von körperlichen Erkrankungen sollten ausgeschlossen werden:
- Entzündliche Hirnerkrankungen
- Rheumatische Erkrankungen
- Schilddrüsen-Erkrankungen
- Hirnverletzungen
- Epilepsien
- Schwerwiegende Schlafstörungen
Online-Untersuchung
Bei einer eigenen Online-Untersuchung mit ca. 4000 Teilnehmern wurde unter anderem die Frage nach „Wattegefühlen“ oder „ob alles unwirklich sei“ gestellt. Ob diese Teilnehmer tatsächlich unter Derealisationi oder Depersonalisation leden, kann auf Grund der Beantwortung einer einzigen Fragen nicht sicher festgestellt werden. Trotzdem spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit hierfür, da auch die sonstigen Beschwerden gut mit den Klagen übereinstimmen, die Patienten mit Derealisation und Depersonalisation im allgemeinen klagen.
Von der Online-Gruppe antworteten 1314 mit „nie“ und 288 mit „sehr oft“ bezüglich "Wattegefühlen oder "ob alles unwirklich sei".
Folgende Beschwerden traten in der "sehr oft" Gruppe gehäuft auf:
- Schwindel
- Panik
- Erschöpfung, CFS, Burnout
- Erstickungserlebnisse in der Vorgeschichte
- Benommenheit
- Angst
- Herzklopfen
- Atemstörungen
- Kalte Hände
- u.a.funktionellen Symptome
Verlauf: Heilt die Zeit alle Wunden?
Auslöser
Zu Beginn der Symptomatik findet sich in aller Regel ein starkes Stress-Erlebnis. Bei den von uns gesehenen Patienten sehen wir sehr häufig Panikattacken und starke Schwindelerlebnisse, was auch in der Literatur beschrieben wird.
Ebenso wird die Einnahme von Drogen (z.B. Cannabis) als möglicher Auslöser beschrieben.
Wie auch bei anderen funktionellen Beschwerden begünstigen Belastungsfaktoren in der Kindheit die Entwicklung der Beschwerden. Solche Belastungsfaktoren sind nicht spezifisch. Letztlich kann alles eine Rolle spielen, was die ungestört seelische Entwicklung eines Kindes beeinträchtigt. Natürlich haben starke seelische Traumata eine besonders ungünstige Wirkung.
Allerdings kann auch eine sehr überbehütete Kindheit mit überängstlichen Eltern ein Risikofaktor darstellen.
Panik, Drogen, Traumata
Aufrechterhaltende Faktoren
Aufrechterhaltende Faktoren
Viele ungünstigen Lebensumstände (z.B. Anspannung, Unsicherheit, ungelöste Konflikte) können eine Chronifizierung begünstigen. Ein Faktor sei jedoch hervorgehoben. Wie häufig bei funktionellen Störungen führt ein inneres Katastrophisieren eher zur Aufrechterhaltung der Beschwerden.
Schließlich ist eine übersteigerte Aufmerksamkeit auf die Phänomen sehr ungünstig. Je mehr der innere Fokus auf dem merkwürdigen Gefähl liegt, desto stärker wird es.
Umgekehrt ist jede Form von Entspannung und innerem Abstand günstig.